Azubis rekrutieren ihre Nachfolger eigenverantwortlich und Mitarbeiter bestimmen im Team ihre Gehälter selbst. Durch solche und ähnliche Konzepte zeigt sich der Wandel der Arbeitswelt. Das Stichwort lautet „New Work“. Werte wie Freiheit und Selbstständigkeit schlagen sich zunehmend in den Unternehmen nieder. Home-Office- und Gleitzeitlösungen sind inzwischen nichts Außergewöhnliches mehr. Was für viele allerdings noch unvorstellbar ist, sind Unternehmen ohne Chefs. Wer entscheidet am Ende? Wer setzt auch mal harte Dinge durch? Wer trägt am Ende die Verantwortung? Es gibt hierarchiefreie Unternehmen, denen man ihren Erfolg nicht abstreiten kann. Genannt sei hier beispielsweise der Musikstreaming-Dienst Spotify.
Was versprechen sich Unternehmen davon Chefs „abzuschaffen“?
Was sind die Vorteile hierarchiefreier Unternehmen?
Eine Kernannahme jener Unternehmen, die auf Hierarchien verzichten oder diese so flach wie möglich halten, ist: Die hohe Autonomie wirkt sich positiv auf die Motivation der Belegschaft aus. Dass Autonomie einen hohen Einfluss auf die Motivation hat, ist wissenschaftlich vielfach gesichert. Wer selbst Entscheidungen treffen kann, fühlt sich verantwortlich, denkt mit und bringt sich ein.
Die hierarchiefreien Unternehmen sprechen auch immer wieder von ihrer enormen Innovationskraft. Das kann ich gut nachvollziehen: Wenn ich es selbst in der Hand habe, Ideen umzusetzen und voranzubringen, dann lohnt es sich auch, nach kreativen Ideen zu suchen und sie anzupacken. Wenn meine Idee erst vier Führungsebenen nach oben getragen werden muss, bevor mir gesagt wird, dass die Umsetzung zu lange dauern würde, höre ich nämlich spätestens nach dem dritten Versuch auf, kreative Ideen zu entwickeln.
Des Weiteren gehen hierarchiefreie Unternehmen davon aus, dass Teams bessere Entscheidungen treffen als ihre Chefs. Mehrere Mitarbeiter besitzen in Summe mehr Wissen und höhere Kompetenz, was sich dann in einer entsprechenden Gruppenentscheidung widerspiegelt. Ein einzelner Chef kann die immer komplexer werdenden Probleme nicht mehr ausreichend überblicken. Außerdem sind solche Manager, die in hierarchischen Unternehmen die wichtigsten Entscheidungen treffen, auch jene, die am weitesten von der Basis entfernt sind.
So weit, so gut. Die hohe Autonomie in hierarchiefreien Organisationen fördert Motivation, Innovationskraft und führt zu besseren Entscheidungen.
Wo ist also der Haken?
Zum einen halten Führungskräfte den Laden zusammen, indem sie Verantwortung für größere Teile des Unternehmens übernehmen und Mitarbeiter auf gemeinsame Ziele ausrichten. Zum anderen bleiben hierarchische Unternehmen handlungsfähig. Wenn Teams sich in ausufernden Diskussionen verlieren, kann ein Chef rechtzeitig das Ruder in die Hand nehmen. Wie wichtig das sein kann, wird spätestens deutlich, wenn der Chirurg seine Assistentin fragt: „Was meinen Sie, sollen wir die sprudelnde Arterie jetzt schon zubinden?“ Hierarchien erhalten die Entscheidungs- und Steuerfähigkeit von Organisationen.
Wie kann es sein, dass es trotzdem erfolgreiche, hierarchiefreie Unternehmen gibt?
Es ist für mich immer noch sehr schwer vorstellbar, dass es dauerhaft erfolgreiche Teams, Abteilungen oder auch ganze Unternehmen ohne Chefs gibt. Was ich aber inzwischen verstanden habe: Es geht nicht um die Frage, ob Hierarchien generell gut oder schlecht sind. Vielmehr ist entscheidend, ob der Grad der Hierarchie zu den Mitarbeitern, zur Unternehmenskultur und auch zum Unternehmensumfeld passt.
Für hochmotivierte, selbstständige Mitarbeiter, die ihre Arbeit lieben, mag Hierarchiefreiheit motivierend sein. Sie können sich und ihre Ideen verwirklichen. Ob aber jeder Mitarbeiter motiviert und zielstrebig arbeitet, ohne einen Chef im Nacken zu haben, sollte zumindest bezweifelt werden. Außerdem sollte berücksichtigt werden, dass Chefs ihren Mitarbeitern Struktur geben und Verantwortung abnehmen. Das Fehlen dieser Struktur bedeutet, dass Mitarbeiter sich ihre Grenzen und Ziele selbst setzen müssen. Dies wird den einen oder anderen Mitarbeiter überfordern. Auch tun sich manche Menschen schwer damit, wenn mehr Verantwortung auf ihren eigenen Schultern lastet.
Die hierarchiefreie Unternehmenskultur muss sich durch ein Gruppendenken auszeichnen.
Mitarbeiter sind gehalten, sich ständig gegenseitig offenes Feedback zu geben, damit das Wissen der Gruppe auch wirklich genutzt wird und am Ende nicht jeder doch sein eigenes Ding durchzieht. Auch das eigene Ego gehört nach hinten angestellt. Wenn es Mitarbeitern nicht um eine gute Lösung, sondern um das eigene Durchsetzen geht, werden die dominanten Mitarbeiter die Zurückhaltenden unterbuttern, ohne dass ein Chef hier gegensteuern kann.
Abschließend spielt das Unternehmensumfeld eine große Rolle für die Frage, inwieweit ein Unternehmen hierarchisch organisiert sein sollte. Ist ein Unternehmen in einem dynamischen Umfeld tätig, das ständig Veränderungen und neue Produkte fordert, kann es durchaus Sinn machen, die Innovationskraft durch möglichst viel Autonomie zu fördern. Das erklärt auch, warum man hierarchiefreie (oder Unternehmen mit sehr flachen Hierarchien) überwiegend bei innovativen IT-Start-Ups vorfindet. Es sollte daher genau überlegt werden, ob es sich lohnt, die hohe Entscheidungs- und Steuerfähigkeit von hierarchischen Unternehmen aufs Spiel zu setzen, bei denen es weniger um Innovation, als vielmehr um reibungslose Abläufe geht.
Das Thema ist komplex. Was lässt sich abschließend zusammenfassen?
Erste Unternehmen zeigen Hierarchiefreiheit bereits in Reinform, indem es einen Chef nur noch auf dem Papier gibt. Andere Unternehmen versuchen an verschiedenen Stellen Hierarchien abzubauen, um die Autonomie ihrer Mitarbeiter zu erhöhen. Hierarchiefreiheit kann unter bestimmten Bedingungen sehr erfolgreich sein. Aber genau diese verschiedenen Bedingungen sind sorgfältig zu reflektieren, wenn es um die Frage geht, ob auf Hierarchie verzichtet werden sollte oder nicht.
Ansonsten kann es nämlich passieren, dass Ihr Unternehmen zukünftig nicht nur hierarchielos, sondern auch kopflos agiert.
Themen: Arbeitsmarkt, Menschen, Personalwirtschaft